IA / Aufklärung

IA / Recon
Jesse James Garrett, 29. Jan bis 5. März 2002
Übersetzer: Norbert Hadwiger November 2005

  1. Disziplin und Rolle
  2. Stammessitten
  3. Im Laborkittel
  4. Und dann geschieht ein Wunder
  5. Der Architekt von morgen
  6. Geheimnisse und Botschaften

Teil 1 von 6: Disziplin und Rolle

Es gibt eine Disziplin, bekannt als Informationsarchitektur; und es gibt eine Rolle, bekannt als die des Informationsarchitekten. Disziplin und Rolle haben sich mehr oder weniger parallel entwickelt, darum betraf bisher jede Diskussion über die Disziplin auch die Rolle und umgekehrt. Doch dies muss sich möglicherweise ändern.

Es gibt zwar nie einen richtigen Moment für einen Konjunktureinbruch, aber für den Kreis der Informationsarchitekten kommt die gegenwärtige Krise zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt. Gerade als wir begonnen haben, den Wert unseres Beitrags zum Prozess des „Web-Designs“ erfolgreich deutlich zu machen, drängen uns ökonomische Sachzwänge, uns noch energischer anzupreisen. Wir stehen Kunden gegenüber, deren Skepsis teils durch wirtschaftliche Zwänge und teils durch die negativen Erfahrungen während der dot-com-Ära genährt wird.

Auf der Höhe der „New Economy“ begeisterte einige von uns die Vorstellung, dass unsere Arbeit in Management-Kreisen als unerlässlich für den Erfolg jeden Unternehmens erkannt und die Verantwortung für diese Themen in der Folge auf der höchsten Hierarchieebene angesiedelt sein wird (beim sagenumwobenen und illusorischen „Chief Experience Officer“, „CXO“). Jetzt, in Anbetracht der Krise, erscheinen sowohl die Disziplin als auch die Rolle wie vom Aussterben bedroht.

Unsere Antwort darauf war, die Reihen zu schließen und zu versuchen, für unsere Leistungen Verkaufstechniken und markttaugliche Argumentationen zu formulieren. Aber wir sind uns selbst nicht so sicher, was wir eigentlich verkaufen wollen: die Idee der Informationsarchitektur oder die Idee des Informationsarchitekten? Auf Grund dieser Verwirrung sind wir tief verstrickt in einem endlosen Hin und Her über die Definitionen von Disziplin und Rolle.

Die eine Denkrichtung versucht, die Disziplin aus der Rolle heraus zu definieren. Der Grundgedanke scheint hier zu sein: „Ich bin ein Informationsarchitekt, und deswegen ist alles, was ich tue, Informationsarchitektur.“

Auf der Rolle basierende Definitionen tendieren naturgemäß zum Ausufern. Weil die Verantwortlichkeiten, die der Rolle entsprechen, von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich sind, wird die Definition der Rolle (und dadurch auch die der Disziplin) immer umfassender. Diese Auffassung führt zur so genannten „großen IA“ – einer Definition, die einen breiten Bereich von Verantwortlichkeiten einbezieht, einschließlich Geschäftsstrategie, Informationsdesign, Benutzerforschung, Interaction Design, Bedarfsanalyse – die Liste scheint beliebig fortsetzbar zu sein.

Der dem entgegengesetzte Ansatz definiert die Rolle auf Basis der Disziplin: Was immer das Feld der Informationsarchitektur ist, ein Informationsarchitekt ist die Person, die genau darauf spezialisiert ist.

Eine solche Definition tendiert dazu, sehr eng zu werden. Um sinnvoll über Probleme der Informationsarchitektur und ihre Lösungen zu sprechen, müssten wir aber den Bereich der zu lösenden Probleme sehr konkret definieren.

Das Ergebnis dieses Ansatzes ist die „kleine IA“ – beschränkt auf die Organisation von Inhalten und die Struktur von Informationsräumen. Doch wenn diese (für die Disziplin bestimmte) Definition auf die Rolle angewandt wird, erzeugt dies bei vielen die Angst, „eingesperrt“ zu werden, gefangen zu sein in einer Rolle, die so eng umrissen ist, dass viele für den Erfolg jeder Architektur wesentliche Elemente außerhalb der Steuerung oder des Einflusses des Informationsarchitekten bleiben.

Die Ausweitung der Rolle des Informationsarchitekten funktioniert sicherlich vorteilhaft für die Person, die diese Rolle dann ausfüllt (wobei dies seit Beginn der ökonomischen Krise vielleicht weniger zutrifft), aber für die gesamte Disziplin ist diese Ausweitung mit Sicherheit eher schädlich. Angesichts der ganzheitlichen Natur der Arbeit an Informationsarchitekturen werden einige sicherlich weiterhin die direkte Kontrolle über jeden Vorgang, der die Informationsarchitektur beeinflussen könnte, anstreben. Diese Art zu denken hat einen arroganten Beigeschmack und unterläuft jede Anstrengung, Unternehmen vom Wert der Disziplin zu überzeugen. Je mehr Macht man fordert, desto schwieriger ist es, andere davon zu überzeugen, sie abzugeben.

Für viele in der Szene ist es schwierig geworden, bei dieser Diskussion sachlich zu bleiben. Jedes Gespräch über die Definition der Rolle bedroht unweigerlich individuelle Identitätsgefühle: Wenn die Diskussion mit einer von meiner Arbeitsbeschreibung abweichenden Definition endet, bedeutet dies, dass ich dann etwa kein Informationsarchitekt mehr bin? Oder schlimmer noch, bin ich dann etwa ein Hochstapler?

Das Ergebnis ist, dass wir uns im Kreis drehen. Die eine Definition der Disziplin kollidiert mit einer anderen Definition der Rolle, und umgekehrt. Wir erreichen nichts, beide Definitionen bringen uns nicht weiter.

Jede Definition, die breit genug ist, um zur Rolle zu passen, ist zu breit, um nützliche Diskussionen zur Disziplin zu fördern. Jede Definition, die eng genug für die Disziplin ist, ist zu eng für die Rolle. Wir scheinen in einer Sackgasse zu stecken. Die eine Definition auf der jeweils anderen aufzubauen resultiert darin, dass eine von beiden unzulänglich sein wird. Beides gleichzeitig zu tun funktioniert nicht, weil sich dann ein klassisches Henne-Ei-Problem ergibt.

Die einzige Lösung ist, die Definition der Disziplin gänzlich von der Definition der Rolle abzukoppeln. Auch wenn dieser Vorschlag entgegen jeder Intuition läuft – es wird sich zeigen, dass er ziemlich vernünftig ist, zumal es Präzedenzfälle aus anderen Fachgebieten gibt. Zum Beispiel hat der Dirigent eines Orchesters ein breites Spektrum von kreativen und leitenden Aufgaben; „Dirigieren“ ist zwar ein Teil seiner Tätigkeit, bezeichnet jedoch nicht die volle Bandbreite dieser Pflichten.

Wir stehen vor einem gewaltigen Bereich wirklich kreativer Herausforderungen, doch statt sich dieser anzunehmen, drehen wir uns beim erfolglosen Versuch, Grundbegriffe zu definieren, über Monate im Kreis. Die Disziplin immer breiter zu definieren hilft uns nicht, diese Herausforderungen besser zu verstehen. Eine enge Definition für die Disziplin zu wählen erlaubt es uns hingegen, einen bestimmten Bereich von Problemen präzise zu beschreiben. Und Genauigkeit des Ausdrucks ist für die Fortentwicklung jeder Disziplin absolut erforderlich.

Die Rolle können wir getrost sich selbst überlassen. Die Unternehmen werden fortfahren, das zu tun, was sie immer getan haben: Rollen nach Bedarf definieren und Ressourcen zuweisen, um Resultate zu erzielen.

Es gibt noch einen anderen, eher praktischen Grund, die Diskussion über die Disziplin von der über die Rolle strikt zu trennen. Es kann sehr gut sein, dass wir, um die Idee der Disziplin „Informationsarchitektur“ am Leben zu halten, die Vorstellung von der Rolle des Informationsarchitekten aufgeben müssen.

Teil 2 von 6: Stammessitten

Informationsarchitektur umfasst ein breites Spektrum von Problemen. Abgesehen vom konkreten Kontext oder von den Zielen eines gegebenen Projekts besteht unser Grundanliegen darin, Strukturen zu schaffen, die effektive Kommunikation erleichtern. Dies ist die Kernidee unserer Disziplin.

Mein beruflicher Hintergrund ist ein Bereich, den unsere Branche „content development“ nennt, für den Rest der Welt als „Text und Redaktion“ bekannt. Aus irgendwelchen Gründen sind nicht sehr viele von uns aus der Redaktionswelt in die Welt der IA gewechselt, und oft finde ich mich in der Situation wieder, die Verbindung zwischen den beiden Welten erklären zu müssen.

In der Geschichte der Menschheit haben sich am ehesten diejenigen Leute mit effektiver Kommunikation befasst, die mit Sprache gearbeitet haben. Dem Hypertext und auch dem schlichten traditionellen Text vorausgehend ist gesprochene Sprache die ursprüngliche Werkzeugkiste, um Information zu strukturieren („architecting information“).

Der Job eines Redakteurs ruft bei den meisten Leuten die Vorstellung einer über den Schreibtisch gebeugten Person, die, mit Rotstift in der Hand, endlose Ströme von Text korrigiert, Teile von Infinitivkonstruktionen zurechtrückt, oder Partizipien ihren Platz zuweist. Aber die Rolle eines Redakteurs und die redaktionelle Disziplin sind sehr verschiedene Dinge. Während es bestimmt einige Leute gibt, die sich auf diese speziellen Arten von Arbeiten konzentrieren, gehört normalerweise viel mehr dazu, ein Redakteur zu sein.

Im weitesten Sinn ist es die Aufgabe eines Redakteurs, Autoren zu helfen, ihren Text wirkungsvoller zu machen. Dies schließt Grammatik, Zeichensetzung und Wortwahl sicher ein, aber ein großer Teil der Aufgabe jeden Redakteurs hat damit zu tun, wirkungsvolle Strukturen zu entwerfen. Ein Redakteur kann für Strukturen auf verschiedenen Ebenen verantwortlich sein: von der Enzyklopädie zum Lehrbuch, vom Artikel zum Absatz, bis hin zum Satz.

Wie der Redakteur ist der Informationsarchitekt im wesentlichen damit beschäftigt, Informationsstrukturen zu entwerfen. Aber die Disziplin der Informationsarchitektur sieht diese Verantwortlichkeit bisher durchaus anders. In der Welt der Informationsarchitektur werden gegenwärtig alle strukturellen Aufgabenstellungen als Varianten desselben Problems betrachtet – des Problems des „Information Retrieval“ (Gewinnung/Auffindbarkeit von Informationen).

Auch die redaktionelle Disziplin hat mit Problemen des Information Retrieval zu kämpfen. Viele Veröffentlichungen sind vorrangig dafür strukturiert, um Information Retrieval zu erleichtern: Telefonbücher, Wörterbücher und Atlanten zum Beispiel. Diese machen jedoch nur einen Teilbereich der unüberschaubaren Masse des jedes Jahr veröffentlichten Materials aus.

Alle anderen Publikationen (die nicht gerade Wörterbücher oder Atlanten sind) haben ebenfalls Strukturen. Aber jene Strukturen unterscheiden sich von den Klassifizierungsschemata, die man in den üblichen Nachschlagewerken erwarten würde. Redakteure verwenden Struktur, um eine Vielfalt von Zielen zu erreichen. Manche Strukturen eignen sich, um zu lehren, andere, um zu informieren, wieder andere, um zu überzeugen.

Ich glaube, dass Informationsarchitektur in der Lage ist, auch diesen erweiterten Problembereich zu bearbeiten, und dass dieses Potential bereits in der heute praktizierten Form der Disziplin latent vorhanden ist. Ich glaube, dass das Feld der Informationsarchitektur letztendlich über den Bereich des Information Retrieval hinausreichen wird. Unser aktueller Ansatz reicht jedenfalls nicht aus, um das Potential der Informationsarchitektur voll auszuschöpfen.

Wenn Sie Redakteure eines Magazins oder einer Zeitung fragen würden, ob die Struktur ihrer Artikel vor der Veröffentlichung mit Lesern getestet worden ist, würden Sie nur Gelächter ernten. Die Entwicklung wirkungsvoller Strukturen ist das Ergebnis eines professionellen Urteilsvermögens, das sich über Jahre hindurch durch Versuch und Irrtum sowie durch die Praxis gewonnene Erfahrungswerte herausgebildet hat.

Für Redakteure ist der Beweis ihrer Professionalität die Fähigkeit, dieses Urteilsvermögen in die Praxis umzusetzen. Das Urteilsvermögen ist die Existenzberechtigung für ihre Rolle als Redakteur. Die Idee, sich vom eigenen Urteilsvermögen zu verabschieden und die Rolle lediglich als Trichter umzudefinieren, in den Untersuchungsergebnisse oben hineingefüllt und Strukturen unten herauskommen, ist aus der Perspektive eines Redakteurs absurd.

Und wissen Sie was? Er hat Recht.

Teil 3 von 6: Im Laborkittel

Für viele Außenstehende ist „Informationsarchitektur“ im Laufe der Zeit zu einem Synonym für „Usability“ geworden. Es ist verständlich, wenn die Praktiker einer so neuen Disziplin wie der unseren sich an andere, bereits etablierte Disziplinen, die einen gewissen Fortschritt ihrer Glaubwürdigkeit erreicht haben, anlehnen möchten. Aber wenn wir Informationsarchitektur mit Forschung in einen Topf werfen, riskieren wir, unseren eigenen Prozess zu korrumpieren und gerade jene Glaubwürdigkeit zu unterlaufen, die wir erlangen möchten.

Gegenwärtig ist es Mode zu glauben, Informationsarchitektur gelingt nur gut, wenn sie auf dem Fundament ihr vorausgegangener Benutzerforschung aufgebaut und in einer Reihe von Benutzertests validiert worden ist. Aber die Vermengung von Informationsarchitektur und Forschung, mit der Konsequenz, dass die eine nicht ohne die jeweils andere existieren kann, ist eine irreführende Vereinfachung.

Im günstigsten Fall täuschen wir lediglich unsere Kunden. Schlimmstenfalls täuschen wir uns auch selbst.

Unsere architektonischen Entscheidungen in Forschung einzubetten, hat insgeheim das Ziel, sie „kugelsicher“, unanfechtbar zu machen. Es ist viel einfacher, eine Wissenschaft zu verteidigen als eine Meinung, auch wenn diese Meinung auf Erfahrung und professionelles Urteilsvermögen gestützt ist. Aber was hier passiert, ist weit entfernt von Wissenschaft – es ist Pseudo-Wissenschaft. Unsere Auffassungen mit den Federn der Forschung zu schmücken macht sie nicht wissenschaftlich, ebenso wie das Überstreifen eines Laborkittels uns nicht zu Wissenschaftlern macht.

Forschung nützt Informationsarchitektur am meisten, wenn sie versucht, das Problem zu definieren, das wir zu lösen haben. Forschung nützt Informationsarchitektur am wenigsten, wenn sie versucht, die Lösung selbst zu definieren - und sie kann dabei tatsächlich falsche Ergebnisse produzieren.

Es ist nicht immer leicht zu sagen, ob eine Forschungsstudie das Problem oder die Lösung desselben definiert. Während des Forschungsprozesses können gut gemeinte Versuche, das Problem zu artikulieren, in Vorschläge zu dessen Lösung münden – vor allem dann, wenn die Person, die die Studie durchführt, auch für die Erarbeitung der Problemlösung verantwortlich ist.

Die Struktur einer Forschungsstudie selbst kann eine gewisse Lösung nahelegen. Ebenso kann die Analyse der Forschungsdaten mit dem Ziel, einen Befund zu erstellen, Gewichtungen und Vorannahmen einführen, die eine bestimmte Lösung suggerieren. Und weil diese Studien nicht gegengeprüft werden, kommen fehlerhafte Methoden und verzerrte Ergebnisse nicht ans Licht.

Schlechter noch als eine Studie, die implizit eine Lösung suggeriert, ist eine, die nur zu diesem Zweck durchgeführt wird. „Die Benutzer haben uns gesagt, wie die Information organisiert sein muss – also setzen Sie das so um!“

Forschung kann dann äußerst nützlich sein, wenn Benutzerziele eindeutig identifiziert und erfasst werden können. Information Retrieval ist ein Bereich, wo dies der Fall ist; E-Commerce ist ein anderer. Aber die Forschung ist wenig dazu geeignet, Benutzerziele zu berücksichtigen, die außerhalb dieser engen Domänen liegen.

Auch die am besten konzipierte Forschungsstudie kann einen fähigen Informationsarchitekten nicht ersetzen. Das Ziel forschungsabgeleiteter Architektur ist, dass den Benutzer niemals etwas überraschen soll. Forschung lässt sich perfekt für die Erstellung von Architekturen einsetzen, bei denen alles voraussagbar und vertraut ist. In bestimmten Fällen, wie Information Retrieval und E-Commerce, ist es genau das, was wir brauchen.

Aber in vielen Fällen muss die Informationsarchitektur von einem mit dem Thema nicht vertrauten Publikum ausgehen. Und manchmal, wenn es um Fortbildung oder Überzeugung des Publikums geht, kann ein Überraschungseffekt eines der wirkungsvollsten Mittel des Informationsarchitekten sein. Doch keine direkt von der Forschung abgeleitete Architektur wird je solche Überraschungsmomente vorsehen – sondern sie im Gegenteil verhindern.

Außerdem würden wir wohl niemals solche neue architektonische Ansätze entdecken, wenn wir uns zu sehr auf die Validierung unserer Arbeit durch Benutzertests stützen.

Als ich an der High-School war, besuchte ich einen Kurs, bei dem es – so schien es zunächst – um Sprache und Wortschatz ging. Am ersten Tag des Kurses entdeckte ich, dass es sich eigentlich darum drehte, den genormten „SAT“-Test, der eine der Voraussetzungen für die Aufnahme ins College ist, zu bestehen.

Wir lernten dort keine allgemeinen Prinzipien für die Verbesserung der Sprachverwendung oder des Wortschatzes. Wir lernten (bzw. wurden durch ständige Wiederholungen darin gedrillt), wie der SAT-Test funktioniert, wie die Fragen formuliert sind, und wie man wirksam raten kann, wenn man die Antwort nicht weiß. Aber eine Technik zur Überlistung eines Tests zu beherrschen, ist etwas völlig anderes, als sich tatsächlich in einer bestimmten Materie auszukennen.

Ähnlich verhält es sich mit Usability. Wenn wir Usability-Tests als das entscheidende Kriterium für Erfolg oder Misserfolg ansehen, forcieren wir die Entwicklung von Tricks, mit denen solche Tests überlistet werden können. Das ungeschriebene Gesetz der Usability ist, dass der effizienteste Ansatz der Beste ist. Aber man kann nur immer wieder betonen, dass außerhalb des beschränkten Bereichs, in dem Benutzeraufgaben restlos identifiziert und Ziele vollständig bekannt sind, Effizienz nicht unbedingt einen Universalwert darstellt. Tests können eben nicht gleichzeitig alle möglichen Ziele einer Architektur oder ihrer Benutzer berücksichtigen.

Wenn sich unsere Disziplin so weiterentwickelt wie bisher, wird unser ganzes Wissen über Informationsarchitektur kaum über eine Sammlung von Tipps und Tricks, wie man Tests überlistet, hinausreichen. Inzwischen bleiben die unserer Arbeit innewohnenden wirklich kreativen Probleme so wenig verstanden wie bisher.

Teil 4 von 6: Und dann geschieht ein Wunder

Oft sind auf Mailinglisten zum Thema Informationsarchitektur Fragen eines bestimmten Typs zu lesen, in etwa so:

„Ich brauche Hilfe. Ich habe eine Lösung vorgeschlagen, bei der jeder auf dieser Liste sagen würde, ja, das ist völlig vernünftig. Aber jemand in meiner Firma bevorzugt eine andere Lösung, die jeder auf dieser Liste als zutiefst unpraktikabel ansehen würde. Weiß irgendjemand von irgendeiner Studie, die beweist, dass ich Recht habe?“

Das wirkliche Problem hier ist kein Mangel an Daten – es ist ein Mangel an Glaubwürdigkeit. Informationsarchitekten sind einer Reihe von Demütigungen ausgesetzt. Zuerst müssen wir erklären, was wir tun. Dann müssen wir erklären, warum dies wichtig ist. Ist dieser Teil dann verstanden, entscheiden unsere Kunden, dass sie dies auch selbst tun können. Etwas von solch tiefgreifender und strategischer Bedeutung sollte doch schließlich keinem anderen als einer Führungskraft innerhalb des Unternehmens überlassen werden, oder etwa nicht?

In der Absicht, die Glaubwürdigkeitslücke zu schließen, haben wir uns der Forschung zugewandt, um unser Ansehen zu erhöhen. Unsere Ungeduld gegenüber unserer eigenen Fähigkeit, einen Sinn dafür zu entwickeln, was am besten im neuen Medium funktioniert – kombiniert mit unserem Bedürfnis, jene zu überzeugen, die dieses Feld nicht verstehen – hat uns in eine übersteigerte Abhängigkeit von Forschungsmethoden geführt, die uns vorgeben sollen, was wir zu denken haben.

Die vermeintliche Wirksamkeit dieses Ansatzes hat uns dazu geführt, auch den ganzen Rest unserer Tätigkeit zu verwissenschaftlichen, indem wir Informationsarchitektur auf simple Formeln, in Schritte zerlegte Prozesse und auf eine Sammlung von Regeln reduzieren. Es wurden bereits viele Versuche unternommen, Informationsarchitektur in ein prozessuales Schema zu pressen. Die Erwartung dabei scheint zu sein, dass wir irgendwie zu einem Standardansatz kommen sollten, bei dem Forschungsdaten auf der einen Seite hineingefüttert werden und die ideale Architektur auf der anderen Seite herauskommt.

Alle Versuche in Richtung einer Methodologie für Informationsarchitektur sehen gleich aus: Eine Masse an Informationen über Methoden vorbereitender Benutzerforschung, gefolgt von erschöpfenden Auflistungen von Techniken des Usability Testings. Aber Moment mal – fehlt hier nicht noch etwas? Wann findet denn die eigentliche Arbeit an der Architektur statt?

Die ganze Angelegenheit erinnert ziemlich an einen berühmten Sidney-Harris-Cartoon, bei dem ein Wissenschaftler die Arbeit eines Kollegen an einer Tafel begutachtet. Er deutet auf einen scheinbar problematischen Teil einer Gleichung und meint: „Ich denke, dass Sie hier in Schritt 2 noch etwas expliziter werden sollten!“ Zwischen den mathematischen Formeln stehen dort unvermittelt die Worte: „und dann geschieht ein Wunder …“

Im Falle von IA ist das „Wunder“ der Entwurf der Architektur selbst. Es gibt ein ständig wachsendes Forschungswissen, das diesen kreativen Prozess durch Bereitstellung von Informationen unterstützen kann; ebenso gibt es einen Methodenkanon, um die Ergebnisse dieses Prozesses auszuwerten. Aber der Prozess selbst – der Kern unserer Arbeit – bleibt ein Geheimnis, ein gähnendes Loch in unserem Verständnis der Disziplin „Informationsarchitektur“.

Wir verbringen unsere Zeit damit, über alles mögliche zu sprechen außer über den wichtigsten Teil – über das, was wir tun. Ironischerweise unterhöhlt die Betonung der Forschungsmethoden unsere Glaubwürdigkeit, die wir ja gerade festigen wollten. So aber entsteht der Eindruck, dass sich irgendjemand mit den „sieben Schritten für erfolgreiche IA“ bewaffnen und unseren Job machen kann. Kein Wunder, dass es sich dann so anfühlt, als ob unsere Rolle in Gefahr sei.

Jede Methode, die es versäumt, den kreativen Prozess anzusprechen, ist in trauriger Weise unvollständig. Wenn wir weiterhin jeden Ansatz befürworten, der sich auf aufwendige Forschung verlässt, riskieren wir außerdem gerade jene Leute zu entfremden und auszuschließen, die wir für das Wachstum unserer Disziplin am nötigsten brauchen.

Teil 5 von 6: Der Architekt von morgen

Spezialisierung, sagt man, ist etwas für Insekten.

Aber es war Spezialisierung, die der Disziplin der Informationsarchitektur wirklich half, in den frühen Tagen des Netzes zu sich selbst zu kommen. Und sogar jetzt noch sind es die Spezialisten, die die Disziplin lebendig halten – angesichts einer Branche, die bemüht ist, sich von den in der Blütezeit der New Economy zusätzlich angeheuerten Webentwicklern zu trennen.

Jeder Bereich erlebt solche Umschwünge. Die Herausforderung für die Praktiker ist es dabei, Strategien zu meiden, die eine kurzfristige Bedarfsdeckung zu Lasten eines langfristigen Wachstums begünstigen.

Unsere Antwort auf die aktuellen ökonomischen Bedingungen ist es gewesen, auf unserem Standpunkt zu beharren und die strategische Wichtigkeit von IA-Spezialisten für die Unternehmen zu betonen. Dieser Ansatz kann einige Spezialistenstellen für eine Weile erhalten. Doch die Betonung des Spezialisten-Status kann den Fortschritt der Disziplin behindern und das aufs Spiel setzen, was als ihr besonderes Merkmal – was immer dies auch sein mag – die Goldgräberstimmung überdauern wird.

Obwohl der Markt für die Disziplin in den kommenden Jahren weiterhin wachsen wird, die (spezialisierte) Rolle wird immer nur einen kleinen Anteil dieses größeren Marktes ausmachen können.

Spezialisten werden immer eine Rolle spielen. Einige Unternehmen haben so viel Arbeitsaufkommen, dass es für ihren Erfolg entscheidend sein wird, einen betriebsinternen Informationsarchitekten zu haben. Einige Unternehmen, die normalerweise keinen dedizierten IA-Bereich brauchen, haben ab und zu Projekte, die so groß oder wichtig sind, dass mit Sicherheit ein IA-Spezialist als Berater hinzugezogen wird. Unternehmen, deren Websites Geld verdienen (statt Geld zu sparen), sehen den Wert der Entwicklung von IA-Expertise sofort.

Aber die meisten Leute, die IA machen, werden nie in der Lage sein, sich ausschließlich darauf zu konzentrieren. Die meisten Unternehmen haben nicht das Arbeitsaufkommen, um eine eigene betriebsinterne IA-Abteilung zu rechtfertigen. Für die große Mehrheit der Unternehmen wird die Arbeit am Web immer eine Kostenstelle und kein Profit-Center sein. Deswegen werden die meisten Teams eher unterqualifiziert, unterbesetzt und durch schmale Budgets eingeschränkt sein.

Wenn wir sehr viel Glück haben, wird die Verantwortung für Informationsarchitektur jemandem in diesen Teams zugewiesen. Diese Leute mögen den Titel „Web Designer“ oder „Content Editor“ oder „Projektmanager“ haben. Für sie alle ist die Benutzererfahrung nur ein Aspekt unter einer Vielzahl von Aufgaben, um die sie sich kümmern müssen. Und deren Arbeit bildet das Gros von IA im Internet.

Die Zukunft der Informationsarchitektur ist in ihren Händen, nicht in unseren.

Der Fortschritt der Disziplin hängt von der Weiterentwicklung und Vermehrung des Wissens ab. Dieses Wissen kann wiederum nur durch die wohlüberlegte, bewusste Betrachtung des breiten Spektrums von architektonischen Problemen und möglichen Lösungen zustande kommen. Am nötigsten brauchen wir gute Fallbeispiele und Erkenntnisse, die aus deren unmittelbaren Lösung heraus entstehen.

Aber als Spezialisten sind unsere Ressourcen für solche Bemühungen beschränkt. Wie viele Projekte kann ein einzelner Spezialist in einem Jahr annehmen? Sicher nicht mehr als ein Dutzend, und in den meisten Fällen wahrscheinlich weit weniger. Währenddessen steht jedem Spezialisten eine Vielzahl von Nicht-Fachleuten gegenüber, die isoliert arbeiten, ihre Fehler gegenseitig wiederholen und mit niemandem teilen, was sie gelernt haben.

Damit die Disziplin vorankommt, müssen wir den Dialog öffnen, um diese Nicht-Spezialisten einzubeziehen und es ihnen erlauben, zur Entwicklung unseres Wissens beizutragen. Aber dies verlangt wiederum die Einsicht, dass Disziplin und Rolle getrennt zu betrachten sind und dass die Disziplin innerhalb einer großen Vielfalt von Rollen ausgeübt werden kann.

Außerdem müssen wir alles in unserer Macht stehende tun, um die Nicht-Spezialisten bei ihrer IA-Arbeit zu unterstützen. Umfangreiche Untersuchungsmethodologien helfen ihnen nicht, weil sie weder die Mittel noch die Unterstützung haben, um solche Ansätze zu implementieren. Und selbst wenn sie es täten: die Beherrschung von Untersuchungs- und Testmethoden macht aus einem schlechten Architekten noch lange keinen guten. Dazu ist noch etwas anderes nötig.

Teil 6 von 6: Geheimnisse und Botschaften

Ich bin oft nach dem Geheimnis meines Erfolgs als Informationsarchitekt gefragt worden. Hier enthülle ich es zum ersten Mal.

Ich habe ein Gespür.

Natürlich ist es nicht genug, einfach nur Gespür zu haben. Es muss ein feines Gespür sein. Mein eigenes Gespür muss feiner sein als das Gespür meiner Kunden – genau deshalb engagieren sie mich.

Ich führe die Qualität meines Spürsinns auf meine Ausbildung als Journalist zurück. Womit ich aber nicht vorschlagen will, dass jeder Informationsarchitekt die Journalistenschule besuchen oder ein Praktikum bei der Lokalzeitung machen sollte. Was nötig ist, ist ein neuer Ansatz, der nicht an irgendeiner älteren Disziplin hängt.

Alle suchen nach der Geheimformel, die den Spürsinn aus der Informationsarchitektur austreibt. Aber Spürsinn ist ein unvermeidlicher Teil unserer Arbeit. Und, noch wichtiger: Es ist die Qualität seines Spürsinns, die einen guten Informationsarchitekten von einem schlechten unterscheidet.

Ich will damit nicht sagen, dass es keinen Platz für Forschung im Prozess der Informationsarchitektur gibt. Forschung kann uns helfen, unser Gespür zu verbessern. Forschung sollte unser professionelles Urteilsvermögen unterstützen, es aber nicht ersetzen.

Die perfekte Untersuchungsmethodologie, die auf anerkannten wissenschaftlichen Prinzipien von Ethnographie, Kontextanalyse und Human Factors Testing basiert, wird den Legionen von Nicht-Spezialisten, die die Mehrheit der IA-Probleme zu lösen haben, nicht helfen. Was diese Leute mehr als alles andere brauchen sind Werkzeuge und Techniken, die ihnen helfen, die Qualität ihres Spürsinns zu verbessern – die ihnen helfen, ein feineres Gespür auszubilden.

IA-Praktiker haben ganz unterschiedliche berufliche Hintergründe und bringen vielfältige Erfahrungen mit, um Architekturprobleme anzugehen. Doch trotz aller Unterschiede sind wir uns einig: die Welt braucht bessere Architekturen.

Forschungsdaten und formalisierte Methodologien garantieren keine besseren Architekturen. Bessere Architekten garantieren bessere Architekturen. Aber nichts von dem, das wir jetzt tun, führt zu einer Generation von besseren Architekten.

Wenn wir uns weiterhin an einer Definition von Informationsarchitektur orientieren, die von einem Spezialisten ausgeführt werden muss, wird die Disziplin stagnieren und untergehen. Gegenwärtig bauen wir ein Wissen auf, das auf Grund der geforderten Voraussetzungen – ein dedizierter Spezialist, Geld und Zeit, um zu forschen – für die überwiegende Zahl der praktischen Fälle irrelevant ist. Ein solcher Ansatz verdammt die Spezialisten zu wachsender Irrelevanz, weil wir uns ohne Bezug zur tatsächlichen Praxis der Entstehung von Informationsarchitekturen weiterentwickeln.

Ähnlich den Herausgebern eines Magazins genießen die Architekten von morgen nicht den Luxus, wochenlang Lösungen zu entwickeln und sie wiederholt zu testen. Schnelle Ergebnisse sind gefragt. Dazu müssen sie ihr Gespür verfeinern. Als Gemeinschaft, die ein vitales Interesse daran hat, die Disziplin langfristig zu stärken, sollten wir sie dabei unterstützen, die Fertigkeiten zu entwickeln, die ihnen zu diesem verfeinerten Gespür verhelfen. Denkwerkzeuge statt Geheimformeln. Fertigkeiten statt Regeln.

Um Werkzeuge zu entwerfen, die breit angewendet werden können, müssen wir ein tieferes Verständnis des kreativen Denkens entwickeln, das mit unserer Arbeit verbunden ist. Sobald wir solche Werkzeuge zur Verfügung gestellt haben, müssen wir auch Wege aufzeigen, damit sich Nicht-Spezialisten uns anschließen können – wobei praktische Fähigkeiten gegenüber Methodenkenntnissen zu betonen sind. Diese Leute werden die fruchtbarste Quelle eines neuen Denkens in unserem Bereich sein, und wir müssen ihre Beteiligung fördern.

Den Unternehmen bzw. Entscheidungsträgern, von deren Zustimmung die Ausübung unserer Disziplin überhaupt abhängt, ist ziemlich mulmig zumute nach der Achterbahnfahrt, die ihnen die New Economy beschert hat. Sie haben zu vielen Leuten gegenübergestanden, die ihnen einen Esel als Rennpferd verkaufen wollten.

Dies bietet uns eine einmalige Gelegenheit. Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, werden die Wahrnehmung unseres Arbeitsbereichs und dessen zukünftige Richtung maßgeblich bestimmen.

Die richtige Botschaft, so aufrichtig wie unumgänglich, wird uns die Glaubwürdigkeit einbringen, die wir anstreben, und die Achtung, die wir verdienen. Die falsche Botschaft – die die Pseudo-Wissenschaft über das angewandte professionelle Urteilsvermögen stellt, oder Managern vorschreiben will, wie sie ihre Unternehmen führen sollten – führt nur zu fortgesetzter Frustration.

Die Botschaft, die wir aussenden sollten, ist folgende:

Informationsarchitektur ist eine Disziplin, die innerhalb einer großen Vielfalt von Rollen ausgeübt werden kann. Architekturen können für vielerlei Arten von Zielen entworfen werden, nicht nur für Information Retrieval. Der allerwichtigste Faktor für den Erfolg von Informationsarchitekturen sind die Fähigkeiten ihres Entwerfers. Diese Fähigkeiten zeigen sich in der Kombination eines auf Erfahrung gestützten professionellen Urteilsvermögens, einer wohlüberlegten Berücksichtigung von Forschungsergebnissen und einer disziplinierten Kreativität. Diese Fähigkeiten können ebenso von Spezialisten wie von Nicht-Spezialisten entwickelt und angewandt werden.

Nur wenn wir mit dem, was uns wertvoll macht, ehrlich umgehen, können wir andere von diesem Wert überzeugen. Nur wenn wir mit unserem Wissen großzügig umgehen, können wir von seinem ganzen Nutzen profitieren. Und nur durch die Entwicklung einer Kultur, die sich diese Prinzipien zu eigen macht, können wir das Wachstum unserer Disziplin fördern und unseren fortgesetzten Erfolg sicherstellen.

WolfNoeding — 11.01.04 18:49